Außenbeziehungen in Indien: Eine wachsende Rolle der Bundesstaaten

AMIT ABH MA TTOO / HAPPYMON JACOB

Die Verfassung Indiens gibt der Bundesregierung in Neu Delhi praktisch die ausschließliche Hoheit über die Außen- und Verteidigungspolitik. Auch in der Praxis hat sie seit Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 1950 eine strenge Kontrolle über Indiens auswärtige Beziehungen ausgeübt. Die Gliedstaaten haben mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen bei der Formulierung oder der Umsetzung der Außenbeziehungen des Landes nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Vor etwa einem Jahrzehnt jedoch begann diese zentrale Steuerung der Außenpolitik aufzuweichen. Eine Vielzahl von Faktoren ist dafür verantwortlich. Diese sanfte de-facto-Erosion der Machtstellung des Bundes (wenn auch noch nicht de jure) dürfte sich wahrscheinlich im nächsten Jahrzehnt fortsetzen. Die graduelle Lockerung der zentralen Steuerung der Außenpolitik scheint keine bewusste oder gewollte Maßnahme der Unionsregierung zu sein.

Selbst ein flüchtiger Blick auf den siebten Teil der Verfassung Indiens zeigt, dass die Unionsregierung die nahezu unbeschränkte Befugnis besitzt, die Außen- und Verteidigungspolitik des Landes zu gestalten und

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umzusetzen. Dieser Teil der indischen Verfassung definiert die Gewaltenteilung und umfasst drei Listen: die Unionsliste, die Liste der Bundesstaaten und die konkurrierende Liste. Die Bundesregierung genießt die Gesetzgebungshoheit in den in ihrer Liste genannten Belangen, während die Gliedstaaten die Gesetzgebungshoheit für die Belange auf der Liste der Bundesstaaten hat. Die konkurrierende Liste beinhaltet jene Bereiche, für die die Föderationsregierung und die Regierungen der Bundesstaaten gemeinsam zuständig sind. Weder die Liste der Bundesstaaten noch die konkurrierende Liste behandeln direkt das Thema der Außen- und Verteidigungspolitik in Indien. Unter solchen Umständen ist es notwendig, Hinweise außerhalb des Verfassungsrahmens zu suchen. Gibt es Fälle, in denen Gliedstaaten in der Lage waren, durch Mittel und Verfahren, die außerhalb des Verfassungsbereiches liegen, außen- und verteidigungspolitische Entscheidungen des Landes zu beeinflussen?

Zwar besitzen die Bundesstaaten verfassungsrechtlich praktisch keine Zuständigkeit für die Außenbeziehungen, in der Realität der Praxis ist jedoch eine andere Entwicklung festzustellen. Seit den frühen 90er Jahren hat sich der feste Griff der Bundesregierung bezüglich der Außenpolitik des Landes sukzessive gelockert. Für den zunehmenden Einfluss der

Gliedstaaten bei der Gestaltung der Außenpolitik

scheint es vier Gründe zu geben, die alle miteinander in Beziehung stehen. Erstens kann der besondere verfassungsrechtliche Status, der einem bestimmten Bundesstaat gewährt wird – etwa der Autonomiestatus der Bundesstaaten Jammu und Kaschmir – den führenden Politikern eines Bundesstaates eine Stimme bei der Formulierung der Außenpolitik des Landes verleihen. In der jüngsten Vergangenheit war der Premier-minister von Jammu und Kaschmir, Mufti Mohammed Sayeed, in der Lage, Indiens Pakistanpolitik zu beeinflussen. Sayeed wird gemeinhin als Architekt mehrerer vertrauens

bildender Maßnahmen betrachtet, die von den beiden Ländern eingeführt wurden. Diese umfassen die Wiederaufnahme des Busverkehrs zwischen Srinagar und Muzaffarabad über die Demarkationslinie hinweg, die Jammu und Kaschmir zwischen Indien und Pakistan aufteilt, sowie die beispiellose Zusammenarbeit zwischen Islamabad und Neu Delhi nach dem vernichtenden Erdbeben im Herbst 2005.

Zweitens kann auch das politische Gewicht eines führenden Politikers eines Bundesstaates die Außenpolitik beeinflussen – wenn auch in einer informellen Art und Weise. Das Beispiel von Amrinder Singh, dem Premierminister des Bundesstaates Punjab, veranschaulicht dies. Auf der Basis einer gemeinsamen kulturellen Tradition, Punjabiyat, nahm Singh

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Verbindung mit dem pakistanischen Punjab auf, und diese Politik fand beachtliche Zustimmung in der Bevölkerung des indischen Punjab. In einem anderen Fall ging der Repräsentant Kaschmirs, Scheich Abdullah, als Gesandter von Premierminister Nehru 1964 nach Pakistan, und es wird vermutet, dass er sogar eine Übereinkunft mit Präsident Ayub Khan erzielte. Diese Übereinkunft konnte allerdings nicht mehr in die Praxis umgesetzt werden, weil Nehru, noch während sich der Scheich in Pakistan aufhielt, starb. In ähnlicher Weise waren politische Schwergewichte aus dem südlichen Bundesstaat Tamil Nadu in der Lage, beachtlichen Einfluss auf Neu Delhis Politik gegenüber Sri Lanka auszuüben.

Drittens haben Koalitionsregierungen auf der Bundesebene den Regierungen der Bundesstaaten und ihren politischen Führern Raum gegeben, einen stärkeren Einfluss auf außenpolitische Themen auszuüben. Chandrababu Naidu, der Premierminister des Bundesstaates Andhra Pradesh, wurde oft in Bezug auf größere außenpolitische Initiativen der Bundesregierung konsultiert, weil Naidus Partei ein wichtiger Koalitionspartner auf Bundesebene war.

Zwar mag sich die verfassungsrechtliche Position nicht verändert haben, die Kräfte der Globalisierung haben jedoch neue Verfahren und Möglichkeiten hervorgebracht, die den Gliedstaaten in der Zukunft eine wichtigere Rolle ermöglichen. Dies wird besonders an der Gestaltung der Außenwirtschaftspolitik sichtbar. Viele internationale Finanzorganisationen und -institutionen verhandeln zum Beispiel in Indien direkt mit den Regierungen der Bundesstaaten. Unabhängige Diskussionen und Verhandlungen finden zwischen Organisationen wie der Weltbank, der Asiatischen Entwicklungsbank, der UNICEF, der UNDP und den Regierungen verschiedener Bundesstaaten statt. Der Bundesstaat Andhra Pradesh hat sogar eine eigene Einheit für die Welthandelsorganisation (WTO), die sich mit Themen der WTO befasst. Da die südindischen Bundesstaaten zu Zentren der Software-Entwicklung und zum bevorzugten Ziel für ausländische Investitionen werden, hat die Regierung der Föderation die politischen Präferenzen dieser Bundesstaaten bei der Formulierung ihrer Außenwirtschaftspolitik zu berücksichtigen. Mit dem zunehmenden Wettbewerb um ausländische Direktinvestitionen (FDI) ergreifen darüber hinaus Offizielle der indischen Bundesstaaten die Initiative und reisen ins Ausland, um die Investitionsbedingungen mit den beteiligten Organisationen direkt auszuhandeln. In verschiedenen Teilen des Landes haben auch Antiglobalisierungsbewegungen bewiesen, dass sie die Macht haben, die Investitions- und Produktionsbedingungen in einzelnen Regionen zu beeinflussen.

Die Kräfte der regionalen Integration haben ebenfalls einen Freiraum geschaffen, in dem die föderalen Einheiten begonnen haben, eine eigene Rolle zu spielen. Der Druck der Regierung des Bundesstaates Sikkim half, die Öffnung der traditionellen Handelsverbindungen zwischen dem

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indischen Bundesstaat Sikkim und China über den Nathula-Pass zu beschleunigen. Pawan Chamling, der Premierminister von Sikkim, setzte sogar eine Forschungsgruppe ein, die die Eröffnung der Handelsroute dringend empfahl. In ähnlicher Weise hat der Bundesstaat West-Bengalen die Golf-von-Bengalen-Initiative für sektorenübergreifende technische und wirtschaftliche Entwicklung (BIMSTEC), die Südasien mit Südostasien verbindet, umfassend unterstützt und strebt nach einer ökonomischen Gemeinschaft des Golfs von Bengalen. Diese hätte das Potential, Kolkata (die Hauptstadt des Bundesstaates West-Bengalen) wieder zu dem Zentrum des Handels und der Wirtschaft zu machen, das es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war.

Dieser langsame aber stetige Wandel in der Formulierung der Außenpolitik des Landes wird allgemein willkommen geheißen. Indien, ein Land großer Unterschiede und großer Vielfalt, benötigt eine Änderung der Art und Weise, wie Politik gestaltet wird, wenn es wirklich in Übereinstimmung mit seiner heterogenen Wirklichkeit leben will. Ein stärker auf Beratung setzender, organischer und kreativer Stil wird die Bedürfnisse der Menschen besser befriedigen und könnte die Grundlage für einen wirklich nationalen Konsens werden.