In der Schweiz wurden den Kantonen im vergangenen Jahrhundert zwar kaum Aufgaben entzogen, jedoch hat der Bund praktisch alle Kompetenzen an sich gezogen, welche seit der Schaffung des modernen Sozial- und Wirtschaftsstaates überhaupt erst Staatsaufgaben wurden. Die Kantone haben heute in diesen Bereichen kaum weitreichende Kompetenzen zur eigenständigen Gesetzgebung. Ob dabei Interessen betroffen sind, die auf gliedstaatlicher oder kommunaler Ebene besser geregelt werden können, wurde insgesamt (wenn überhaupt) zu wenig geprüft. Die föderative Struktur des schweizerischen Staates geriet so in Bedrängnis.
Seit den 1990er Jahren ist nun aber ein deutlicher Wandel und Aufbruch spürbar, der in der Schaffung der Konferenz der Kantonsregierungen im Jahre 1993 seinen Ausdruck fand. Durch die am 18. April 1999 in einer Volksabstimmung genehmigte vollständig revidierte Bundesverfassung (BV) und die geplante Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben (NFA) soll die föderalistische Ordnung wiederbelebt werden.
Die neue Bundesverfassung
Die neue BV hat an den charakteristischen Pfeilern des schweizerischen Bundesstaates nichts geändert – durch die Überführung ins geschriebene Recht kommt der bundesstaatliche Charakter in der BV aber besser zum Ausdruck.
Den Machtteilungsaspekt bringt zunächst der dreistufige Staatsaufbau mit Bund, Kantonen und Gemeinden zum Ausdruck. Die Gemeinden sind neu ausdrücklich erwähnt, was aber nichts daran ändert, dass die direkten Ansprechpartner des Bundes nach wie vor die Kantone sind. Der Bund garantiert den Kantonen ihren Bestand, ihr Gebiet und ihre verfassungsmässige Ordnung.
Die Kompetenz- und Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen erfolgt im Sinne eines Kompetenzvorbehaltes des Bundes bzw. der subsidiären Generalkompetenz der Kantone. Damit diese Kompetenzordnung nicht durch anderslautendes kantonales Recht abgeändert wird, kommt dem Bund die Aufgabe der Gewährleistung der Kantonsverfassungen zu. Aus demselben Grund gilt im Falle von Kompetenzkonflikten grundsätzlich der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts. Alle diese Funktionen nimmt der Bund unter Bewahrung der Eigenständigkeit der Kantone wahr.
Die Kantone sind einander gleichgestellt (Ausnahme: das geringere Gewicht der Stimmen der Halbkantone bei der Berechnung des Ständemehrs). Ihnen kommt eine substantielle Autonomie in der Bestimmung und Ausführung ihrer Aufgaben, in der Bestimmung, Erhebung und Verwendung ihrer Einnahmen, sowie in der Bestimmung ihrer Organisation und ihrer politischen Verfahren zu. Die Kantone können gemeinsame Interessen in den Grenzen der bundesstaatlichen Kompetenzordnung kooperativ wahrnehmen; sei es durch Vertrag oder durch gemeinsame Organisationen und Einrichtungen.
Der Bundesstaat kennt also einen doppeltenProzess der Unifizierung: Über den Bund und interkantonal. Gesamthaft wird das Verhältnis zwischen den Kantonen ebenso wie die Beziehungen zwischen Bund und Kantonen vom Grundsatz der Verpflichtung zum Zusammenwirken (der sog. „Bundestreue“) geprägt.
Als institutionelle Vorkehren der Machtbeteiligung kennt die BV ein substantielles Recht der Kantone zur Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes. Dieses äussert sich vor allem darin, dass die Bundesverfassung nicht gegen den Willen der Mehrheit der Kantone abgeändert werden kann. Gegen den Erlass von Bundesgesetzen können acht Kantone ausserdem gemeinsam das fakultative Referendum ergreifen. Doch schon vorher werden die Kantone vom Bund rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben informiert und wird Ihnen ein Recht zur Stellungnahme im Vernehmlassungsverfahren eingeräumt. Die gleichen Pflichten des Bundes bzw. Rechte der Kantone existieren im Bereich der Aussenpolitik.
Nach Erlass von Bundesrecht sollen die Kantone die Umsetzung übernehmen; dabei hat der Bund ihnen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit zu lassen und kantonalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Wo die Kantone die Umsetzung von Bundesrecht übernehmen, soll der Bund ihnen ausreichende Finanzierungsquellen belassen und für einen angemessenen Finanzausgleich sorgen. So soll verhindert werden, dass aufgrund weitreichender materieller Vorgaben des Bundes im Kompetenzbereich der Kantone der Bundestaat zum bloss dezentralisierten Staat wird.
Die Neugestaltung des Finanzausgleichs
Der Bund wird durch die BV verpflichtet, im Verhältnis Bund/Kantone für einen angemessenen Finanzausgleich zu sorgen. Daneben muss ein solcher Machtausgleich auch zwischen den Kantonen stattfinden. In beiden Bereichen des partnerschaftlichen Föderalismus, der das solidarische Zusammenwirken und die gegenseitige Rücksichtnahme beinhaltet, versucht die NFA angemessene Lösungen zu finden. „Ein moderner Finanzausgleich, verbunden mit einer lastenausgleichsgerecht aktualisierten Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen und ergänzt mit einem leistungsfähigen Kooperationsinstrumentarium dürfte in der Tat entscheidend dafür werden, ob die in der nachgeführten Bundesverfassung formulierte Föderalismus-Idee im Sinne einer ehrlichen Partnerschaft zwischen Bund und Kantonen überleben kann.“ (Ulrich Zimmerli)
Auf die primär finanziellen Aspekte des Finanzausgleichs wird hier nicht eingegangen.
Daneben versucht die NFA durch Entwirrung der Kompetenzen und eine Verbesserung der Kooperationsinstrumentarien die föderative Struktur zu stärken.
Die Neuordnung der Kompetenzen orientiert sich dabei zunächst in einem neuen Art. 3bis BV am Grundsatz der Subsidiarität (siehe Kasten S. 43). Er lautet: „Bei der Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben ist der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten.“ Erst wenn eine horizontale Zusammenarbeit nicht zustande kommt oder diese übermässige Koordinationskosten verursacht, wird eine Zentralisierung ins Auge gefasst. Als zusätzliche Kriterien für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben sieht die NFA ausserdemneu die fiskalische Äquivalenz, das Prinzip der Gleichbehandlung bei der Grundversorgung und die Gebote der Bedarfsgerechtigkeit und der Wirtschaftlichkeit vor.
Schon mit der Schaffung der neuen BV sollten die Kantone dazu angehalten werden, bewusst und systematisch die interkantonale Kooperation und die Partnerschaft zum Bund zu entwickeln. Die NFA schafft eine Rechtsgrundlage für Verträge zwischen Bund
Federations Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002
und Kantonen für die Umsetzung von Bundesrecht und sorgt damit für Rechtssicherheit.
Für interkantonale Rahmenvereinbarungen und Verträge erhält der Bund in bestimmten Aufgabenbereichen die Kompetenz zur Allgemeinverbindlicherklärung, sofern interessierte Kantone einen solchen Antrag stellen. Auf Antrag interessierter Kantone kann der Bund ausserdem Kantone zur Beteiligung an interkantonalen Verträgen verpflichten. Umstritten war bisher, inwieweit interkantonalen Organen durch einen interkantonalen Vertrag die Kompetenz zum Erlass von mehr als nur technischen Normen übertragen werden kann. Dies soll nun möglich sein, sofern der Vertrag nach dem gleichen Verfahren, das für die Gesetzgebung gilt, genehmigt worden ist und die inhaltlichen Grundzüge der Bestimmungen festlegt. Was den adäquaten Einbezug der kantonalen Parlamente anbelangt, so sind verschiedene Modelle denkbar. Die Kantonsregierungen sind einzig verpflichtet, ihre Parlamente rechtzeitig und umfassend über bestehende und beabsichtige Vereinbarungen zu informieren. Vergleicht man die geschriebene heutige Fassung mit dieser neuen Regelung in der NFA, so kommt der Vorschlag einem Abbau von demokratischen Mitspracherechten gleich. Doch in der Praxis ist die Regelung ein demokratischer Fortschritt, da in einem bisher noch ungeregelten Gebiet genaue Vorgabengemacht werden, wann eine Übertragung an die interkantonalen Organe zulässig ist. Diese „Ermächtigungsregel“ wird wieder zu einer verstärkten Anbindung an die kantonalen Parlamente führen.
Und die Allgemeinverbindlicherklärung wurde durch den Entwurf des Finanzausgleichsgesetzes an ein derart hohes Quorum (18 Kantone) gebunden, dasszumindest eine weitgehende Übereinstimmung unter den Kantonen herrschen muss. Denn anders als bei einer Verfassungsänderung genügt nicht ein einfaches Ständemehr, was bedeutet, dass auf einem Aufgabengebiet von gesamtschweizerischer Bedeutung ein gegenüber einer bundesstaatlichen Regelunghöheres Mass an Übereinstimmung vorliegen muss. Zu Recht wird aber geltend gemacht, dass die Kantone durch Vereinbarungen interkantonale Organe zum Erlass rechtsetzender Bestimmungen, ja sogar Rechtspflegeorgane einsetzen können, womit einer exekutivstaatlichen Regulierung Tür und Tor geöffnet würden. Ob bezüglich des Ständerates nicht eine verstärkte Rückbesinnung auf seinen föderativen Ursprung angesagt wäre, ist ebenfalls eine berechtigte Frage.
Dem interkantonalen Recht wird ausserdem ein Vorrang gegenüber dem kantonalen Recht gewährt, womit der Rang von interkantonalen Normen erstmals durch die Verfassung des Bundes geregelt – und als bundesstaatliche Zwischenebene anerkannt – wird. Damit wird auch das in der Lehre bisher nicht geklärte Verhältnis zwischen interkantonalem Recht und kantonalem Verfassungsrecht geklärt.
Schliesslich werden gewisse Komptenzbereiche entweder ganz dem Bund, ganz den Kantonen oder Bund und Kantonen gemeinsam bzw. interkantonal zur Erfüllung zugewiesen. Das Bundesgericht soll zudem die Bundesgesetze auf die Einhaltung der verfassungsmässigen Aufgabenteilung überprüfen können.
Ideen für EU-Integrationspolitik
Trotzdem bleiben auch nach diesen institutionellen Reformen Gefahren, welchen sich die Hoheitlichkeit der Kantone entgegengestellt sieht.
So bindet der Bund die Kantone über die Aussen- und Integrationspolitik, d.h. über die Entwicklung und Umsetzung von Ideen für die laufende europäische Integration und einen allfälligen späteren Beitritt der Schweiz zur EU, immer mehr ein. Es ist deshalb notwendig, Institute und Verfahren zu entwickeln, welche es den Kantonen ermöglichen, die Entwicklungen zu kontrollieren und ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Die Kantone sind nicht mehr nur nachgeordnete, vollziehende Gebietskörperschaften, sondern, nach einem modernen Verständnis des Bundesstaates, in gewissen Bereichen als eigentliche Partner, ja als mitverantwortliche Träger der Bundespolitik anzusehen. Denn letztere kann nur mit Unterstützung und durch die Umsetzung der Gliedstaaten erfolgreich durchgeführt werden.
Insbesondere durch einen EU-Beitritt der Schweiz würden eine ganze Anzahl kantonaler Kompetenzen partiell eingeschränkt oder umgebaut. Dies betrifft insbesondere die Gebiete der Erziehung und Kultur, des Gesundheitswesens, der Raumordnung und Infrastruktur, der Wirtschaftsförderung, der Wirtschaftsaufsicht (Gewerbepolizei), der Berufsdiplome, des öffentlichen Beschaffungswesens, des öffentlichen Dienstrechts, der Justiz und Polizei sowie der Steuern. Dabei würden namentlich die Regelungskompetenzen eingeschränkt; anwachsen würden demgegenüber die Vollzugsaufgaben. Ausserdem können sich die Aufgaben erheblich verändern oder es erwachsen ganz neue Aufgaben.
Die BV spricht aber den Fall einer EU-Mitgliedschaft nicht explizit an. Mit der Anknüpfung an die umfassende, dem Bund zustehende Kompetenz zum Staatsvertragsabschluss ist bezüglich der Kompetenzzuordnung Bund-Kantone noch nichts gewonnen. Vielmehr droht einZentralisationsprozess, wie er in Österreich nach dem EU-Beitritt geschehen ist, weil die innere Staatsorganisation nicht darauf vorbereitet und daran angepasst worden ist.
Denn die EU ist mit einem gewöhnlichen Staatsvertrag nur sehr bedingt vergleichbar. Die Bundesverfassung muss nach (oder besser: vor) einem Beitritt Verantwortung, Anforderungen und Kontrollen bezüglich der Umsetzung des EU-/EG-Rechts in den Grundzügen festlegen.
Welche Rolle für die Kantonen in der EU?
Eine weitere Konsequenz eines EU-Beitrittes ist die Tatsache, dass die kantonalen Mitwirkungsrechte beim Abschluss eines Staatsvertrages nicht mehr zur Anwendung gelangen können. Denn die europäische Politik drückt sich durch Verordnungen, Richtlinien oder Entscheide der Behörden aus, d.h. gesetzgebend oder quasigesetzgebend.
Da der einmal verabschiedete europäische Entscheid nicht mehr von der Genehmigung der nationalen Behörden abhängt, müssen die Kantone zeitig zu Wort kommen. Der häufigste Fall wird sein, dass eine Reaktion auf einen Vorschlag der EU-Kommission – dem einzigen Organ mit Initiativrecht – erfolgen kann.
Als Instrumente stehen zur Verfügung:
Ein Mitgliedstaat hat zwar kein formelles Initiativrecht mit Anspruch auf Behandlung, doch ist es durchaus üblich, dass Vorschläge der Kommission auf Veranlassung eines Mitgliedstaates erfolgen. D.h. ein Kanton könnte den Bund auffordern (z.B. im Rahmen einer Standesinitiative), solche Schritte gegenüber der Kommission zu unternehmen. Ausserdem können die Mitgliedstaaten zahlreiche Experten in Ausschüsse platzieren, welche die Vorschläge der Kommission vorbereiten. Der Bund wäre ohne Weiteres frei, Personen auch auf Empfehlung der Kantone in diese Ausschüsse zu berufen.
Da viele Aufgaben nur noch europäisch oder sogar nur noch global gelöst werden können, ist eine defensive Haltung der Kantone, welche versucht die zunehmende integrationspolitische Einbindung abzuwehren, wenig sinnvoll.
Laut Thomas Pfisterer: „Also ist eine offensive Strategie der Mitgestaltung angezeigt: 1) sich selber intern reformieren und (europa-)
tauglich machen, 2) sich bei der Verteilung der Aufgaben im
Bereich der Auslandbeziehungen, bei der
Umsetzung sowie deren Finanzierung
einschalten und dazu mit Bund und
Nachbarn zusammenarbeiten, 3) landesintern und im Verhältnis zur
Gemeinschaft mitwirken und 4) sich europapolitisch engagieren.“
Federations Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002