Seit mehreren Jahrzehnten bereits sind die Provinzen Kanadas auf der Weltbühne aktiv. Viele wissen um die besondere Rolle Quebecs bei der Förderung einer eigenen internationalen Persönlichkeit im Ausland und stellen fest, dass Quebecs außenpolitische Beziehungen oft mit dem Bestreben nach Unabhängigkeit verbunden sind. Dennoch ist es wichtig, diese Beziehungen und die der übrigen Provinzen in einem weitgefassteren Zusammenhang zu sehen. Diese Art mehrschichtiger Verwaltungspolitik muss nicht zu Konflikten führen, sondern kann oft ergänzend und kooperativ wirken.
Verfassungskontext
Normalerweise fällt die Außenpolitik, besonders das Abschließen von Verträgen, in den Aufgabenbereich der zentralen Regierung. Da ist das wichtige Beispiel Belgiens, wo die Sprachgemeinden ausnahmsweise Verträge in den Bereichen ihrer Kompetenz unterzeichnen dürfen.
In den meisten Fällen jedoch hat die föderale Regierung unumstrittene rechtliche Befugnis in der Außenpolitik. Nichtsdestoweniger hat sich in der Praxis der Föderalismus mit streng geteilten Verantwortungsbereichen in einen Föderalismus mit gemeinsam wahrgenommener Verantwortung gewandelt. Tatsächlich entwickelt sich Kanadas politische Persönlichkeit und sein Verhältnis mit dem Ausland schrittweise zu einem von allen kanadischen Regierungsebenen geteilten Verantwortungsprozess.
Ein Teil dieser kooperativen Gemeinschaftsarbeit ist in einer verfassungsmäßigen Notwendigkeit begründet.
Bei seiner Gründung im Jahre 1867 als föderativer Staat war Kanada noch eine Kolonie des Britischen Weltreiches. Als Kanada nach dem Ersten Weltkrieg eine größere Unabhängigkeit erlangte, entstand die Frage, wie sich die Unabhängigkeit auf die föderale und provinzielle Verteilung der Macht ausüben würde. In einem bedeutenden Fall der 30er Jahre („Labour Conventions“, d. h. Beschäftigungsgesetze) entschieden die Gerichte, dass – obwohl die staatliche Regierung Abkommen beitreten darf – das staatliche Parlament nur Gesetze zum Implementieren von solchen Abkommen verabschieden kann, die in den Bereich der staatlichen Verantwortung fallen. Wo die Abkommen provinzielle Gesetze betrafen, konnten nur provinzielle Gesetzgeber entsprechende Gesetze zu deren Verwirklichung verabschieden.
Wenn in Betracht gezogen wird, dass die kanadischen Provinzen zahlreiche ausschließliche Befugnisse zur Gesetzgebung unter anderem in den Bereichen Bildungswesen, Gesundheitswesen, Eigentumsrecht, Arbeitsgesetz und Naturressourcen besitzen, sind die potenziellen Auswirkungen auf die vertraglichen Verpflichtungen des Landes Kanada und dessen Fähigkeit, solche Verpflichtungen einzugehen, enorm.
Bei der Urteilsbegründung im „Labour Conventions“-Fall betonte das Gericht, dass Kanada als Ganzes umfassende Befugnisse zum Durchführen von auswärtigen Beziehungen hat, dieser Prozess jedoch kooperative Bemühungen aller Regierungsebenen erfordert.
Sechzig Jahre später haben wir intensive und größtenteils produktive Beziehungen zwischen dem Staat und den Provinzen. Die föderale Regierung begleitet die Provinzen in den frühen Stadien der Verhandlungen neuer internationaler Verpflichtungen, darunter in zahlreichen Fällen als Teil einer Delegation. Am Ende des Prozesses verabschieden die Provinzen im Allgemeinen die entsprechenden Gesetze, da sie von Anfang an mit einbezogen wurden.
Die kanadischen Provinzen haben keine legale Befugnis, eigene Verträge zu verfassen, obwohl diese Bestimmung von der Regierung Quebecs angefochten wird. Sie schließen andere Arten internationaler Vereinbarungen ab, die im Sinne des internationalen Rechts nicht bindend sind. Quebec hat gegenwärtig über 400 solcher Vereinbarungen.
Regierung auf mehreren Ebenen
Die Gesetzgebung wird mehr und mehr zu einem voneinander abhängigen Prozess. Alle Regierungsebenen sind nun mit daran beteiligt – ein Trend, der sich ständig verstärkt. In Kanada gibt es drei sich überschneidende Bereiche mehrfacher Regierungsebenen.
Der größte und wichtigste ist der Bereich der kanadischen Außenpolitik, die der föderalen Regierung untersteht und an der die Provinzen nur indirekt beteiligt sind. Selbstverständlich spiegelt diese Politik den normalen Wettbewerb regionaler, nationaler, wirtschaftlicher, sozialer und besonderer Interessen wider.
Ein zweiter, wesentlich kleinerer Bereich, der sich mit dem ersten überschneidet, betrifft die internationalen Aktivitäten der Provinzen.
Der dritte Bereich besteht aus den nationalen Beziehungen der Regierungsebenen untereinander, zum Beispiel zwischen der föderalen Regierung und den Regierungen der Provinzen und Territorien. Dies berührt häufig internationale Thematik. Dieser dritte Bereich überschneidet sich wesentlich stärker mit dem ersten und ein wenig mit dem zweiten.
Federations Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002
Föderale/provinzielle Beziehungen beschränken sich nicht länger auf eine nationale Ebene
Wir sind am besten mit dem dritten Bereich vertraut: die alltäglichen Beziehungen zwischen der zentralen, föderalen Regierung und den Provinzen und Territorien. Hier kommen immer öfter internationale Themen zur Sprache. Es gibt keine ausschließliche Tagesordnung – Diskussionsschwerpunkte reichen über einen breiten Bereich von Foren und Sektoren hinweg: Umweltschutz, Finanzen, Landwirtschaft, Gesundheitswesen usw. Darüber hinaus werden nur geringe oder gar keine Bemühungen unternommen, die einzelnen Schwerpunkte als Ganzes zu koordinieren. Ein solches Vorgehen wäre contraproduktiv und nahezu unmöglich.
Die formellsten dieser Beziehungen betreffen Bereiche, in denen ausschließlich die Provinzen zur Gesetzgebung befugt sind, wie das Bildungswesen und die Beschäftigungspolitik. Hier hat die föderale Regierung beim Festlegen der außenpolitischen Richtung keine andere Wahl, als den Vorgaben der Provinzen zu folgen. Der deutlichste Trend ist eine sich herausbildende gemeinsame Verantwortung für internationale Angelegenheiten, der die Auswirkungen der regionalen oder globalen Integration auf die nationale Souveränität reflektiert.
So umfasst die internationale Handelspolitik heute eine breite Palette nationaler Wirtschaftsbelange, die weit über die Zollbestimmungen hinausgehen. Die provinzielle Politik wird bereits seit vielen Jahren mit einbezogen. Die föderale Regierung berät sich mit den Provinzen über allgemeine Handelspolitik, über bestimmte internationale Verträge wie beispielsweise die Verhandlungen, die zum Kanada-US-Freihandelsabkommen führten, oder über Abkommen mit der Welthandelsorganisation sowie über Handelsdispute.
Als weiteres Beispiel, gegenwärtig befinden wir uns mitten in der sechsten (!) Version eines Weichholzdisputs mit den US-Amerikanern. Der Hauptstreitpunkt ist hierbei das Tantiemenschema der Provinzen für ihre Wald- und Forstressourcen.
Im Allgemeinen können die Beziehungen hinsichtlich der Handelsangelegenheiten als wichtig, produktiv und kooperativ bezeichnet werden. Gelegentlich leiden diese Beziehungen in gewissen Handelsdisputen und enden nicht immer in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess. Die Provinzen haben auf die föderale Regierung Druck ausgeübt um formellere Verfahren anzunehmen, werden aber von Ottawa hingehalten, da die staatliche Regierung sich nicht in formellen Entscheidungen festlegen möchte.
Folgende Frage bleibt bestehen: Wie können wir im Ernstfall bei wichtigen Handelskoordinierungsproblemen sicherstellen, dass Kanada ohne bindenden Entscheidungsprozess an einer integrierten Position festhält?
Ein zweiter Hauptbereich ist der Umweltschutz. Hier ist ebenfalls schwer festzustellen, wo die provinzielle Befugnis endet und die föderale Gesetzgebung beginnt – auch hier handelt es sich weitgehend um eine gemeinsame Verantwortung. Darüber hinaus gibt es derzeitig eine breite internationale Tagesordnung. Um zum Beispiel das Abkommen von Kioto zu implementieren, haben die kanadischen Regierungsebenen gemeinsam einen innovativen und integrierten Prozess zwischen den Regierungen, der Industrie und anderen Interessengruppen entwickelt. Die Beziehungen gestalten sich nicht immer harmonisch, und gemeinsame Aktionen werden auf Konsensbasis unternommen – trotzdem repräsentiert dieser Prozess die intensiven, ineinandergreifenden multilateralen Beziehungen, von denen wir in Zukunft noch mehr sehen werden.
Die Provinzen im Ausland
Der zweite Bereich ist der direkte Einbezug der kanadischen Provinzen in internationale Aktivitäten. Das Hauptziel ist die Förderung von Handel und Investitionen. Die hierbei eingesetzten Ressourcen variieren beträchtlich, da sich die 10 Provinzen und drei territorialen Regierungsebenen hinsichtlich der Größe und finanziellen Macht stark unterscheiden. Die Provinz Quebec hat bisher die konsequentesten Bemühungen erfahren. Sie ist die einzige kanadische Provinz mit einem separaten Ministerium für Internationale Beziehungen und unterhält mehr als 30 Büros im Ausland.
Die Aktivitäten der Provinzen gestalten sich größtenteils ergänzend zu denen der kanadischen Regierung – mit einer Ausnahme: Wenn sich Quebec sozusagen „proto-diplomatisch“ verhält, also eine Diplomatie in Kinderschuhen betreibt. Dies war das Ziel der herrschenden Partei in Quebec, der Parti Québecois – die Welt auf Quebec als international separates Land vorzubereiten. Nichtsdestoweniger vertreten alle Regierungsebenen in Quebec – sowohl föderalistische als auch separatistische – den weniger kontroversen Standpunkt, der Welt klarzumachen, dass Quebec als einzige französischsprachige Gesellschaft in Nordamerika einen Sonderstatus einnimmt.
Föderalismus ist nicht immer wichtig
Der dritte Bereich ist die kanadische Außenpolitik als solche.
Die Hauptschwerpunkte des letzten Jahrzehnts waren die wirtschaftliche Globalisierung, die multipolare Sicherheit und der Umweltschutz. Kanada wird auch durch verschiedene wichtige Beziehungen definiert, wovon keine so bedeutend ist wie die Handels- und Sicherheitsbeziehung mit den USA. Kanada kann sich auch glücklich schätzen, Mitglied in verschiedenen Schlüsselgemeinschaften zu sein: In den G8, im Commonwealth der Nationen, in La Francophonie und in der Organisation Amerikanischer Staaten. Kanada gehört als einziges Land der Welt zu allen vier Vereinigungen gleichzeitig. Damit erhält Kanada einen gewissen Status als „mittlere Macht“.
In keiner dieser Beziehungen, mit der etwaigen Ausnahme von La Francophonie, spielt der Föderalismus eine größere Rolle. Kanadas geologisch-politische Situation wird viel stärker von der Lage des Landes nördlich des 49. Breitengrades und durch seinen Status als eine der wohlhabenden Volkswirtschaften bestimmt.
In dieser Hinsicht ist der Föderalismus nur als zugrundeliegende Notwendigkeit von Bedeutung - durch ihn wird Kanada vereint. Ohne einen föderalen Staatsaufbau gäbe es nördlich der Grenze mit den USA keinen geo-politisch vereinten, einheitlichen Staat. Wenn sich eins der Föderationsmitglieder wie beispielsweise Quebec abspalten sollte, würde Kanadas Einfluss in der Welt sowie die Kapazität zum Bestimmen der Außenpolitik Schaden nehmen.
Vergleich mit anderen Föderationen
Es scheint, dass Kanada in der Welt hinsichtlich direkter provinzieller Aktivitäten, besonders in Fällen, die nicht nur den Grenzübertritt betreffen, führend ist. Kanada verfügt jedoch nicht über die formellen Mechanismen für die einzelnen Regierungsebenen wie zum Beispiel Deutschland oder die Repräsentation im Oberhaus der USA, um die Mitglieder der zentralen Verfassung an der Ratifizierung oder Verabschiedung von Abkommen zu beteiligen. Kanadas Prozess ist nicht zentralisierter oder dezentralisierter als andere. Er ist nur etwas anders.
In Kanada hat die zentrale Regierung keine ausschließliche Entscheidungsgewalt für international Beziehungen, zumindest nicht mehr. Diese wird zunehmend zur gemeinsam wahrgenommenen Aufgabe – eine Schlussfolgerung, zu der auch viele andere Föderationen gelangen könnten.
Darüber hinaus ist die kanadische Geschichte der vergangenen Jahre von überschaubarer Koordinierung und Kooperation geprägt. Die drei verschiedenen Bereiche der Interaktion bestehen nun einmal – es wird jedoch nicht versucht, diese zu integrieren; das ist weder wahrscheinlich oder möglich noch wünschenswert. Trotzdem besteht noch ein wichtiges Hindernis: der Entscheidungsfindungsprozess kann gegenwärtig nicht die Aufgabe erfüllen, bindende Resultate für alle Beteiligten zu erzielen. Die momentanen, wenig formellen Beziehungen belasten die Konsensbildung und sind den intensiven Verwaltungsansprüchen mehrschichtiger Regierungen des 21. Jahrhunderts eventuell nicht gewachsen.
Federations Dreifache Sonderausgabe: Themen der Internationalen Föderalismuskonferenz 2002